Im April 2016 verstarb Hans-Günter Klein, der die hms in seinem Nachlass großzügig bedacht hat. Zu dem Erbe gehörten zwei Wohnungen, von denen die hms inzwischen eine verkauft hat. Infolge der augenblicklichen Situation auf dem Wohnungsmarkt konnte dabei ein sehr hoher
Preis erzielt werden, was für die hms einen erheblichen Vermögenszuwachs von insgesamt über 800.000 Euro bedeutete.
von Detlef Mücke
gehalten am 22. Juni 2016 in der Remise der Mendelssohn-Gesellschaft
Liebe Freundinnen und Freunde von Hans-Günter Klein,
liebe Trauergäste,
wir nehmen heute Abschied von Hans-Günter Klein,
Jede und jeder von uns hier im Raum hat seine eigene Erinnerung an Hans-Günter. Jede und jeder seinen eigenen persönlichen Bezug zu ihm.
Sein Freundeskreis ging weit über Berlin und Deutschland ins europäische und außereuropäische Ausland.
Ich persönlich lernte Hans-Günter im Jahr 1972 kennen. Seit 1974 wohnten wir in der Schlüterstraße zusammen.
HGK war 1939 in Berlin als 2. Sohn seiner Eltern geboren. Kriegsbedingt war die Familie nach Köslin gezogen und 1945 nach Ratzeburg geflüchtet. Der Vater überlebte den Bombenangriff auf Dresden 1945 nicht und wurde später für tot erklärt. Die Mutter zog beide Söhne in Ratzeburg auf, wo HGK zur Schule ging und sein Abitur ablegte. Sein Studium führte ihn nach Hamburg, wo er zunächst dem bürgerlichen Wunsch der Mutter nachkam, ein „anständiges Fach“ zu studieren: Jura. Nach 3 Semestern erkannte er, dass dies in keiner Weise seinen Interessen entsprach und wechselte gegen den Willen der Mutter zum Studium der Musikwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte.
In Hamburg begegnete er Kurt Hiller und die Beziehung zu ihm prägte sehr stark seine Einstellung zu Kultur, Wissenschaft, Politik, Geschichte und Emanzipationsbewegungen der frühen Bundesrepublik. Am 20. Oktober 1970 verlieh ihm der Fachbereich Kulturgeschichte und Kultur von der Universität Hamburg den Titel und die Würde eines „Dr. der Philosophie“. Am 1. Juli 1969 trat er in der Berliner Staatsbibliothek an, absolvierte sein Referendariat in Berlin, Marburg und Köln und avancierte schließlich zum Bibliotheksoberrat. In dieser Funktion war er stellvertretender Leiter der Musikabteilung und Leiter des Mendelssohn-Archivs. „Er war ein gründlicher und respektvoller Kenner und Liebhaber der Schätze und Bestände in der Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin und vermittelte sie sicher, umsichtig und phantasievoll.“ – so beschreibt ihn ein Kollege in der Staatsbibliothek.
Im Privaten setzte er sich ein weiteres Mal über bürgerliche Normen hinweg und beschloss im Juni 1972, eine Wohngemeinschaft zu gründen. Er wohnte mit Männern zusammen, die sich ehrenamtlich gegen die Diskriminierung am Arbeitsplatz wegen der sexuellen Orientierung oder gegen die Ausgrenzung wegen Erkrankung mit HIV und AIDS einsetzten. Er selbst gründete dort mit Freunden die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft und bewahrte damit das Erbe von Kurt Hiller. Andere Mitbewohner gründeten in der WG das Schwule Museum* Berlin. Die WG in der Schlüterstraße in Berlin-Charlottenburg war in den 70er und 80er Jahren einer der Mittelpunkte der Emanzipationsbewegung in Berlin.
Im Dienst achtete HGK korrekt auf die Trennung von Dienstlichem und Privatem.
Im Privaten dagegen bestimmte auch das Dienstliche seinen Alltag und seine Freizeit.
Das Interesse an der Mendelssohn-Familie und an musica reanimata füllte seine Freizeit aus. Die zahlreichen Publikationen geben ein beredtes Zeugnis.
HGK reiste sehr gern und viel. Auf seinen vielen Reisen gingen ihm die Mendelssohns nicht aus dem Kopf. Die Mendelssohns in Italien, in der Schweiz… Wie viele Wanderungen unternahm er im Urlaub, um herauszufinden, von welchem Standpunkt genau Felix eine bestimmte Skizze gefertigt hatte oder ob sich heute noch Spuren eines Besuchs nachzeichnen lassen, den Fanny Hensel in ihren Briefen beschrieb. Im Urlaub bedeuteten ihm die Besuche von Museen und Archiven Arbeit und Entspannung zugleich, wenn er z. B. auf eine „Trouvaille“ stieß.
An Kultur, Geschichte, Theater und Oper interessiert, plante er seine Reisen so, dass er in kleineren Städten Ausstellungen in Museen besuchte, sich selten gespielte Opern in der „Provinz“ anhörte oder sich interessante Inszenierungen innovativer Regisseure ansah.
Von diesen Reisen aus versandte er in großer Zahl Ansichtskarten und pflegte auf diese Weise seinen großen Freundeskreis. Viele seiner Freunde schrieben mir, dass sie dies nun sehr vermissen werden.
Die Vorbereitung der Reisen war ihm ein Genuss, das Fotografieren seine Leidenschaft und das Gestalten von Fotoalben eine große Freude.
Die letzte Reise im September 2015 mit der Mendelssohn-Gesellschaft war ihm besonders wichtig. Von Koblenz über Bingen nach Mainz – mit einem Vortrag von ihm. Anschließend fuhr er noch nach Bochum, um dort in der Jahrhunderthalle sich das „Rheingold“ anzuhören.
Im Dezember 2014 erfuhr HGK, dass er Prostatakrebs hatte. Sein ganzes Leben über war er fast nie ernsthaft krank und ging regelmäßig zur Krebsvorsorge. Im Januar 2015 begann die erste Chemotherapie, weitere folgten. Es stellten sich gesundheitliche Erfolge ein, so dass er noch im September 2015 trotz Erkrankung diese Reise für die Mendelssohn-Gesellschaft organisieren konnte. Der Erfolg dieser Reise gab ihm auch Kraft und machte ihm Mut, weiter gegen diese Krankheit anzukämpfen. Ende März 2016 wurde jedoch eine zusätzliche Strahlentherapie medizinisch notwendig. Diese schwächte ihn sehr stark. Doch auch hier zeigte die Behandlung positive Wirkung, Krebszellen waren kaum wahrnehmbar.
Am letzten Tag dieser Therapie besuchten wir mit ihm die Philharmonie, weil er unbedingt die 6. Sinfonie von Mahler, die „Tragische“, mit Tugan Sokhiev und dem Deutschen Symphonie Orchester Berlin hören wollte. Er hatte diese Sinfonie schon neunmal gehört, wie er in der Partitur notierte, u. a. mit Bernstein, Maazel oder Karajan.
In der Woche vor Ostern war es geboten, dass er wegen seiner Schwäche in das Benjamin-Franklin-Krankenhaus eingeliefert wurde. Am Sonntag/Montag nach Ostern berieten wir mit ihm und den ihn behandelnden Ärzten, dass eine Anschlussheilbehandlung nach der Strahlentherapie notwendig sei, um ihn gesundheitlich wieder fit zu machen. Die Stabilisierung hatten ihm auch die Ärzte prognostiziert. Doch diese stellte sich auch zwei Wochen nach Beendigung der Strahlentherapie nicht merkbar ein.
In der Nacht zum Dienstag, dem 5. April, war dann das Immunsystem kollabiert und HGK lehnte jede weitere medizinische Behandlung ab. Innerlich hatte er wohl für sich beschlossen, jetzt loszulassen und nicht mehr zu kämpfen. Er hatte bis zuletzt gekämpft, gehofft, Pläne gemacht, Termine vereinbart…
Am Donnerstag, dem 7. April, hat er sich um 17.30 Uhr im Beisein seiner Freunde, die sich um ihn gekümmert hatten, von dieser Welt verabschiedet. Er starb bewusst, ruhig und mit sich im Frieden, im Wissen darum, dass er bis zuletzt ein erfülltes Leben gehabt hatte.
Uns bleibt die Erinnerung an einen bescheidenen, lebenslustigen, humorvollen, geistreichen und kulturvollen Menschen.
Hans-Günter, du fehlst uns.
von Tatjana Wulfert, Tagesspiegel, Nachrufe, 5.5.2016
Wir könnten“, schlägt ein Freund ihm vor, „einen Ausflug mit den Rädern machen.“ – „Eine Fahrradtour?“ – „Eine Fahrradtour.“ – „Nein!“ – „Nein?“ – „Meine Mutter hat mich, als ich ein Junge war, auf ein Rad gezwungen und natürlich bin ich bald gestürzt. Seitdem habe ich mich auf keins mehr gesetzt.“ – „Aber womit hast du dich denn damals sonst beschäftigt?“ – „Ich habe Gips in Streichholzschachteln gegossen und Miniaturlandschaften hineingeritzt.“
Die Welt ist selbst aus einer Saubohne herauszulesen. Kein Raum, und mag er noch so winzig sein, begrenzt das Denken. Unendlicher Kosmos auch im Kleinen. Von Klaustrophobie keine Spur, wenn Hans-Günter Klein in der Staatsbibliothek sitzt, fast unleserliche Handschriften entziffert und transkribiert und katalogisiert; wenn ihn ein Kollege anruft, auf der Suche nach der Quelle für ein Mendelssohn-Zitat und Hans-Günter Klein für Minuten in Karteikästen zu verschwinden scheint, um dann wieder aufzutauchen, mit der exakten Kombination aus Zahlen und Buchstaben, unter der das entsprechende Buch zu finden ist; wenn er Woche für Woche in Thomas- Mann-Manier schmale Kalender mit den Geschehnissen des Tages füllt; wenn er ein Buch liest und mit Bleistift auf der ersten Seite Ort und Zeit der Lektüre notiert: „Fahrt Berlin – Paris – Hamburg, 1. Mai 1970“; wenn er in seinen Wagner- und Mozart- und Mahlerpartituren festhält, wann und mit wem er welche Aufführung gesehen hat, Mahlers Sechste zig Mal, zuletzt am 18. März, kurz nach der Strahlentherapie, kurz vor dem Sterben, das Deutsche Symphonie-Orchester unter Tugan Sokhiev, diesen Dirigenten hatte er noch erleben wollen, unbedingt.
Und Felix Mendelssohn Bartholdy. Wagner und Mozart hörte er zwar lieber, aber begeben hat er sich auf die Spuren Mendelssohn Bartholdys. Und dessen Schwester Fanny Hensel. Akribisch, aufmerksam nachforschend folgte er, während seiner Urlaube, ihrer Italiensehnsucht, lief über den protestantischen Friedhof in Rom und fand den Grabstein eines Bartholdy-Onkels, der in einer Aufzeichnung erwähnt wird, bisher aber von niemandem entdeckt wurde.
„Er war ein Preuße durch und durch“, sagt ein Freund. „Aber ein unkonventioneller“, fügt ein anderer mit Nachdruck hinzu. Wildheit entsteht nicht in durchtanzten Nächten, Wildheit entsteht im Kopf. Die Wagnerwelten, die Opernspektakel in Bayreuth. Und dem gegenüber das Eintauchen in die Partituren in seinem Sessel zu Hause, Note für Note lesend.
„Jura“, hatte seine Mutter gesagt, „du wirst Jura studieren“, und er hatte nachgegeben. In den Kreisen, aus denen er kam, sein Vater hatte eine Tuchfabrik im Osten Berlins besessen, aber den Krieg nicht überlebt, war es durchaus gestattet, sich zu vergnügen, aber bitte in Maßen und immer mit Stil. Ordnung und Disziplin hießen die Leitmotive, also bemühte er sich, lernte, las. Aber der Gesetzesstoff wollte nicht in seinen Kopf. Viel lieber spielte er Geige. Oder kaufte sich Schallplatten und Kunstbände und Theaterkarten in Ost-Berlin, von dem Geld, dass die DDR als Wiedergutmachung für die verlorene Fabrik gezahlt hatte.
Und vielleicht summte er, während er eines Nachmittages an der Hamburger Alster spazierte, leise eine Mozartmelodie, wissend, dass er eigentlich noch den Kommentar zum BGB durchzuarbeiten hatte, als ihm Kurt Hiller begegnete, der expressionistische Dichter und Demokrat und Kämpfer für die gleichgeschlechtliche Liebe.
Im Gespräch mit Hiller verschwand der Zwiespalt, die Dinge lagen klar jetzt vor ihm: Er gab das eine Studium auf, um das andere, das richtige zu beginnen, Musikwissenschaft, Kunstgeschichte, Philosophie, was auch immer seine Mutter dazu sagen würde. Er promovierte, er ging an die Staatsbibliothek, er wurde Bibliotheksoberrat. Und er sprach weiter mit Kurt Hiller, der ihm in seine Autobiografie schrieb: „Meinem Hans-Günter Klein, ohne dessen zähes Ermuntern dieses Buch kaum zustande gekommen wäre, in starker dankesvoller Freundschaft.“
Reisen. Schreiben. In der Hiller- und Mendelssohn-Gesellschaft wirken. Die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft in der weitläufigen Charlottenburger Wohnung gründen, in der furiose Feste gefeiert wurden, nachts Männer im Glitzerfummel tanzten und tags um die Rechte der Schwulen rangen. Den Vergnügungen folgte Hans-Günter Klein vom Rande aus, in die politischen Diskurse begab er sich mit wissenschaftlichem Ernst, das Einzelne im Blick und das Ganze.
Er läuft durch Rom, vorbei an monumentalen Bauten, schaut, sucht, nach dem kleinen Brunnen, den Fanny Hensel vor 170 Jahren zeichnete. Er bleibt stehen. Hier, auf diesem Platz müsste er doch sein. Überall nur Gemüsestände. Er setzt sich. Und plötzlich schiebt ein Händler einen Stapel Kisten zur Seite: Der Brunnen erscheint.
Am 7. April starb Hans-Günter Klein. Sein Grab wird auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof in Kreuzberg sein, hinter den Gedenksteinen für Felix Mendelssohn Bartholdy und Fanny Hensel. In einem ihrer Briefe hatte sie einmal dem Bruder geschrieben: „Du fehlst einem, spät und früh.“